Nachruf
Er widmete sich dem Leben im alten Ägypten – und sah darin doch wichtige Hinweise auch für unsere Gegenwart. Mit seiner Frau Aleida Assmann hat er den Begriff und das Konzept des "kulturellen Gedächtnisses" geprägt. Dabei geht es darum, dass ganze Gesellschaften ein kollektives Gedächtnis und eine gemeinsame Erinnerungskultur haben können. Nun ist der Ägyptologe und Friedenspreisträger im Alter von 85 Jahren in Konstanz gestorben.

Im Jahresprogrammheft 2021/22 der Musikalischen Akademie Mannheim schrieb er für unsere Essay-Reihe über sein Verständnis von Musik und kulturellem Gedächtnis. Lesen Sie hier noch einmal den gesamten Beitrag.
Jan Assmann - Ägyptologe, Religionswissenschaftler und Kulturwissenschaftler (1938-2024)
„Als Schüler habe ich mich nur für Musik interessiert und wollte später Musikwissenschaft studieren. Doch nach dem Abitur verließ mich der Mut. Ich entschied mich für Archäologie und bin später in die Ägyptologie gerutscht.“

Musik und kulturelles Gedächtnis: Die Mannheimer Musikalische Akademie
von Jan Assmann
Die Entstehung von Musik-Akademien

Die Mannheimer „Musikalische Akademie des Nationaltheater-Orchesters“ wurde 1778 gegründet mit dem Ziel, die große Tradition der Konzerte der Mannheimer Hofkapelle, eines führenden Orchesters Europas, mit den Mitteln einer bürgerlichen Musikkultur fortzusetzen, nachdem der Hof 1778 mit über der Hälfte der Musiker nach München umgezogen war. Dieser Umzug hätte normalerweise das Ende des Mannheimer Konzertlebens bedeutet, aber dieses Schicksal konnten die in Mannheim verbliebenen Instrumentalisten des berühmten Hoforchesters abwenden. Sie verstärkten sich durch qualifizierte Amateure, konstituierten sich mithilfe der Stadtgesellschaft als bürgerlicher Konzertverein und veranstalteten in demokratischer Selbstbestimmung Konzerte, denen es in gleicher Weise um die Pflege der großen Tradition – Mozart und Beethoven – als auch um die Aufführung jeweils zeitgenössischer Werke ging. Dieser bürgerlichen Musikkultur sollte die Zukunft gehören. Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen der Verbürgerlichung und zugleich der Sakralisierung der Kunst, vor allem der Musik, die in neuen Musentempeln als „Kunstreligion“ gepflegt wurde. 

Was bedeutet nun aber die Bezeichnung dieses Konzertvereins als Akademie? Was hat das mit den seit der Renaissance gegründeten wissenschaftlichen Akademien zu tun? Dass sich ein Orchester „Akademie“ nennt, ist so ungewöhnlich nicht: auch in Berlin gibt es die „Akademie für Alte Musik“ und in London die berühmte „Academy of Ancient Music“ und die „Academy of St. Martin in the Fields“. Fast zwei Generationen vor der Mannheimer Akademie wurde 1726 in London die “Academy of Vocal Music” gegründet, die sich 1731 2 in “Academy of Ancient Music” umbenannte. Sie verfolgte neben musikalischen Aufführungen noch andere Ziele, die der Bezeichnung „Akademie“ eher entsprachen, denn sie widmete sich der Sammlung und kritischen Sichtung von Werken der Vergangenheit. Solche Aktivierung eines spezifisch musikalischen Kulturgedächtnisses schien damals in der Luft zu liegen. 1731 gründeten in London Maurice Green und Christian Festing die „Apollo Academy“, der es gleichfalls um die Verbindung von Konzertaufführungen, den Aufbau eines Archivs der Musikliteratur und gelehrten Diskursen ging. Die „Sozietät der musikalischen Wissenschaften“, die 1738 Bachs Schüler Lorenz Christoph Mizler in Leipzig gründete, war kein Konzertverein, sondern tatsächlich eine reine Akademie mit auf 20 begrenzten Mitgliedern, zu denen u.a. Bach, Telemann, C.H.Graun und ab 1745 auch Händel gehörten. Bei diesen Gründungen spielte zweifellos das Bewusstsein einer Wende eine Rolle, als sich mit dem Aufkommen vorklassischer Stilrichtungen der Gegensatz zwischen „gelehrtem“ und „galanten Stil“ herausbildete und letzterer sich immer stärker durchzusetzen begann. In dieser Situation spürten die führenden Musiker und Musiktheoretiker der Zeit die Notwendigkeit, sich auf einen Kanon des zeitlos Gültigen zu besinnen. 

Kanon und Klassik 

Zur bürgerlichen Sakralisierung der Musik gehörten nicht nur eine neue Andacht des Musizierens und Hörens in säkularen Musentempeln, sondern auch heilige Texte bzw. Werke, wie wir sie normaler Weise mit dem biblischen Kanon verbinden. Was heißt in diesem Zusammenhang „Kanon“? Der Kanon ist die typische Organisationsform eines schriftkulturell verfassten kulturellen Gedächtnisses. Nur in Schriftkulturen können Archive entstehen, aus deren Beständen ein Kanon das Vorbildliche und Verbindliche auswählt. Die Funktion des Kanons lässt sich mit den Begriffen der Maßgeblichkeit, Vorbildlichkeit, 3 Autorität umschreiben. Bei der Bildung eines Kanons scheint die Empfindung einer Wende eine wichtige Rolle zu spielen, der Zeitbruch zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die klassischen Werke, die einen Kanon ausmachen, stehen in einem doppelten Bezug zur Zeit: auf der einen Seite gehören sie zu einer Vergangenheit, der Klassik, die in einem charakteristischen Gegensatz zur jeweiligen Gegenwart steht. Es ist also immer die Idee eines Bruchs oder Abbruchs mitgedacht; Klassik ist etwas, was sich in keiner Gegenwart einfach fortsetzt, sondern der Vergangenheit angehört. Auf der anderen Seite aber verkörpern die klassischen Werke zeitlose Werte und Maßstäbe. Eine Klassik ist zugleich vergangen und zeitlos gültig. Dazu kommt ein zweites Paradox: sie ist Vorbild und zugleich unerreichbar, unfortsetzbar und unwiederholbar. 

Die dritte Bedingung eines Kanons ist die Ausbildung eines theoretischen und kommentierenden Diskurses. Zu einem Kanon gehört unabdingbar die Kritik, d.h. ein Diskurs über die Maßstäbe von Schönheit, Vollkommenheit und Richtigkeit, wie sie sich an den Werken des Kanons ablesen lassen. Zu diesem Zweck wurden Akademien gegründet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Gründung der Mannheimer „musikalischen Akademie“ nicht nur zusammenfällt mit dem Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Musikkultur, sondern ziemlich genau auch mit der Entstehung des im engeren Sinne klassischen Stils in der Musik. 

Was diesen „klassischen Stil“ ausmachen könnte, ist ein zu weites Feld, um es in einem kurzen Essay abzuhandeln. Ein Element des Klassischen, das eng mit meinem Thema, der Beziehung von Musik und Gedächtnis verbunden ist, lässt sich aber vielleicht in einem neuartigen Werkcharakter festmachen. Die große Leistung von Haydn, Mozart und Beethoven, die ihnen und ihren Werken den Rang des Klassischen eintrug, bestand nicht nur darin, Formen zu schaffen, die den Charakter des Endgültigen aufwiesen und Zusätze, Streichungen und 4 Umstellungen ausschlossen, also eben das, was die Komponisten des Barock an ihren Werken von Aufführung zu Aufführung vornahmen, sondern auch eine Art von Verlaufslogik befolgten. Der klassische Sonatensatz etwa erlaubt es einem mit den Formgesetzen vertrauten Hörer, sich im Ablauf des Stückes zu orientieren und zu wissen, wo in der Entfaltung der Form er sich gerade befindet, in der Exposition, der Einführung des zweiten Themas, der Durchführung, der Reprise. Das stellt zugleich ganz neue Anforderungen an das Gedächtnis. Die Aufmerksamkeit des Hörers muss nicht nur auf das Neue, sondern auch auf das in wie immer verwandelter Gestalt wiederkehrende bereits Gehörte gerichtet sein. 

Durch den Kanon eröffnet sich einer Kultur die Möglichkeit, in einer gegebenen Gegenwart die Vergangenheit nicht einfach fortzusetzen, sondern über das Gegebene hinweg auf eine normative, mehr oder weniger ferne und zeitlos gültige Vergangenheit zurückzugreifen und durch solchen Rückgriff einen Rückhalt zu gewinnen. Rückhalt durch Rückgriff, das ist die Formel, mit der sich die Funktion eines Klassikerkanons erklären lässt. Eben dies ist ganz allgemein die Funktion des Gedächtnisses, auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Es ist unser Zeit-Sinn, mit dessen Hilfe wir uns in der Zeit orientieren und aus der Vergangenheit Vorstellungen von Zukunft entwickeln können. 

Rückhalt und Rückgriff am Beispiel Händels 

In den Kanon schafft es niemand aus eigener Kraft. Selten galt ein Komponist bereits zu Lebzeiten als kanonisch und behielt diesen Rang über seinen Tod hinaus, und oft wurde einem Komponisten oder einem Werk dieser Rang auch erst mehr oder weniger lange nach seinem Tod zuteil. Ein Kanon entsteht immer im Nachhinein, Kanonisierung ist ein Rezeptionsschicksal, ein Instrument des kulturellen Gedächtnisses, das seine Orientierung aus der Rückschau gewinnt. Hier bildet allerdings Georg Friedrich Händel eine Ausnahme, und zwar als 5 Oratorienkomponist. Mit einigen seiner Oratorien (vor allem Messias, Israel in Egypt, Judas Makkabäus, Alexanderfest) blieb er über seinen Tod hinaus permanent im Kanon und im Repertoire. Als Opernkomponist aber geriet er in Vergessenheit und wurde erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Bach blieb als Tastenvirtuose und -Komponist im Gedächtnis (Beethoven lernte als Schüler das Wohltemperierte Klavier und komponierte später mit wachsender Leidenschaft Fugen), geriet aber mit seiner Vokalmusik in Vergessenheit. Sein Fall ist vielleicht der Spektakulärste überhaupt in der Geschichte des musikalischen Kulturgedächtnisses. Mit der Wiederentdeckung und Aufführung der Matthäuspassion durch den 19jährigen Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahre 1828 setzte für Bach geradezu eine Vergötterung ein, die auf seiner vergessenen Vokalmusik beruhte und ihn als „fünften Evangelisten“ auf den Gipfel des musikalischen Kanons überhaupt emporhob. 

Ein zentrales Instrument der Kanonisierung ist die Gesamtausgabe. Auch hier war Händel vorausgegangen. Die vierzigbändige Ausgabe seiner Werke von Samuel Arnold (1787ff.) war die erste Gesamtausgabe überhaupt, die einem Komponisten zuteil wurde. Der Harfenist Stumpff hatte die 40 roten Bände der Arnoldschen Händelausgabe 1826 Beethoven kurz vor dessen Tod zum Geschenk gemacht, und es heißt, er sei mit einem Band in den Händen (und was könnte das anders sein als Messiah) gestorben. Die Blütezeit der musikalischen Gesamtausgaben war das 19.Jh., dieselbe Zeit, in der sich ein musikkritischer Diskurs entfaltete, Haydn, Mozart und Beethoven als Klassiker den Romantikern gegenübergestellt wurden und die Programme der jetzt aufblühenden bürgerlichen Musikkultur Musik der Vergangenheit favorisierten. So kommt es im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Historismus, zu einem Auseinandertreten von Alt und Neu in der Musikkultur und damit zu einer entscheidenden Wandlung des musikalischen Kulturgedächtnisses. 

Es ist aufschlussreich, dass Mozart und Beethoven, als sie vor dem Problem der Erneuerung des konventionellen Kirchenstils standen, gerade auf Händels Musik zurückgriffen. Mozart zitierte im Requiem den Eingangschor des Funeral Anthem für Königin Caroline für den Eingangschor “Requiem aeternam” und den Chor “We will rejoice” aus dem Dettingen Anthem für das “Kyrie eleison”. Dieses Kyrie kopierte und analysierte auch Beethoven bei der Arbeit an seiner Missa solemnis ohne zu ahnen, dass Mozart dabei auf Händel zurückgegriffen hatte. Besonders ließ Beethoven sich aber von Händels Messiah inspirieren und sein wörtliches Zitat der Fuge „And he shall reign for ever and ever“ aus dem Halleluja (T.41-51) im Dona nobis pacem seiner Missa Solemnis (T. 216-226) ist als eine Huldigung oder Widmung zu verstehen. Was an diesen Beispielen deutlich wird, ist der Zusammenhang von Erinnerung und Innovation im kulturellen Gedächtnis der Musik. Gerade der Rückgriff auf alte Musik oder alte Stile ermöglicht es Händel und Bach, Mozart und Beethoven, Strawinsky, Hindemith und Schönberg, sich vom Zeitgeschmack zu emanzipieren und ganz Neues zu schaffen. „Kehren wir zum Alten zurück“, schrieb Verdi 1871 in einem Brief an Francesco Florimo, „es wird ein Fortschritt sein.“ Diese Verbindung des Alten mit dem Neuen, diese Aktivierung des kulturellen Gedächtnisses im Interesse der Schaffung von Neuem, ist es, was im Namen „Akademie“ als Bezeichnung für Konzertvereine seit bald 300 Jahren mitschwingt.
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